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Franz-Joseph-Land
Auf dem Weg nach Westen: Der große Dokumentarfilm »Carpatia« zeigt die Kernlandschaft Osteuropas

von Christoph Dieckmann
Die Zeit, 09.12.2004, Deutschland

Aufbruch in der Ukraine, 89er Roman-tik im politischen Berlin. Gern blitzt Orange beim Fernsehauftritt. Wieder erwacht ein Osten und macht sich auf den Weg. – 'Wohin denn? – Welche Frage: Nach Europa!
       Was man hierzulande so Europa nennt. Der geografische Mittelpunkt der Europäischen Union heißt seit dem 1. Mai 2004 Kleinmaischeid und liegt im Westerwald. Die Mitte des Kontinents ist Purnuskiai, ein litauisches Dorf bei Vilnius. Wie zur Vermessung dieser kolossalen Differenz erreicht uns jetzt ein Film, der ursprünglich »Kurz vor Europa« heißen sollte. Nun lautet sein Titel Carpatia: eine epische Reise ddddddddd
durch das osteuropäische Zentral-massiv und zu seinen Menschen, von den Bergbauem des ukrainischen Hu-zulenlands bis zu den Goldwäschern von Siebenbürgen. Chassiden und Go-ralen treten auf, Zigeuner, Hirten, Herrgottschnitzer. Ein transzeitliches Fatum liegt über dieser vormodernen Welt. Menschen und Tiere laufen im Joch des Geschicks. Die Zeit vergeht und ändert nichts. Gott ist fern und doch allgegenwärtig.
        Was ist das Glück Ihres Lebens? Worauf hoffen Sie? Was kommt nach dem Tode? Nach den letzten Dingen fragen die Filmschöpfer, der Pole Andrzej Klamt und der Deutsche Ulrich Rydzewski. Ihre Protagonisten ant-worten mit philosophischem Ernst. Die Kamera scheint vergessen. Die Ver-käuferin Marinella beschreibt das Himmelreich, von dem der Schnitzer Josef weiß, dass es ihm verschlossen bleiben wird, seiner Sünden wegen, obwohl er unentwegt Christusse fer-
tigt. Das sei ein bisschen wie bei-chten.
        Fünf Länder durchwandert die-ser wunderbare Film und spricht acht Sprachen. Wenn die Menschen schweigen, redet die Natur, mit Nebel-bäumen, wispernden Wiesen, Sicker-wasser, Schnee. Zuweilen wirkt Car-patia wie eine Visitation des ver-sunkenen Franz-Joseph-Lands. Ein Hauch von Rothscher k. u. k. Me-lancholie zieht durch diesen bäuer-lichen Kosmos, der immer war und so nicht bleiben kann. Wenn die letzten drei Juden von Kolomyja sterben, wird ihre Synagoge Jugendclub. Aber noch basteln sie aus Eisenstangen und Folie ein Gehäuse fürs Laubhüttenfest. Noch reist der Zauberer Vaclav durch die dörfliche Slowakei, macht den Bauern Illusionen und träumt von der Australien-Tournee. Und siehe, die Australier träumen zurück und graben in den Karpaten nach Gold. Für ihre Mine muss das Dorf Rosia Montana ddddddd
weichen.
        Der Film zeigt eine karge Welt, deren Lebenshärte wir kaum teilen könnten. Seine Schönheit ist die pro-jizierte Sehnsucht des westlichen Be-trachters – nach Seele, Metaphysik und einer sesshaften Identität, die sich nicht ständig selbst erschaffen muss. Wie unbekannt ist uns dieser Osten, wie weltenfern von dem wa-renförmigen Halbkontinent, den wir gewöhnlich Europa nennen. Der Oze-an des Ostens sei die Donau, liest man beim Ukrainer Juri Andruchowytsch (geboren 1960). »Die Zeit kam für uns immer von außen«, schreibt Andrzej Stasiuk, Andruchowytschs polnischer Geistes- und Jahrgangsbruder. »Auch die Vernunft war bei uns nicht sehr beliebt. Sie sagte uns doch, daß un-sere Situation nicht beneidenswert ist. Deshalb setzten wir mehr auf Gefühle, die das Bild der Welt verändern und diese dabei unangetastet lassen.«
        Mit Moll und Geseufz hat Stasiuk
die EU in Polen empfangen, weil nun der Osten den gefühlsbeschränkten Westen parodiere. »Sollten unsere Sehnsüchte sich auf die Heilslehre der saldierten Inlandsprodukte von Kiew bis Lissabon beschränken? (...) Das raubt unserem eigenen Leben das Er-eignis und das Erregende, macht es langweilig. An eurer Blüte und eurem Aufstieg konnten wir nicht teilneh-men, jetzt dürfen wir euren Untergang nachäffen.« Das klingt hochfahrend und manieriert und warnt doch den Westen vor allzu kerneuropäischen Gewissheiten sowie vor jenem Oran-ge, von dem ein westliches Revo-lutionslied singt: »Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen ...« Friede sei mit der Ukraine, und viel Glück den Revolutionären vom Unab-hängigkeitsplatz. Bleibt die Frage, was wir aus Kiew empfangen – mehr als ein Europapathos, das der verbrüs-selte Westen für sich selbst nicht empfinden kann?