Aus
den Fenstern der Zuhause-Bleiber
Der Dokumentarfilm „Carpatia“ gibt Menschen und Orten in Osteuropa
einen Namen
von Anke Westphal
Hat Europa eine Seele? Braune Kühe glotzen mit großen, feuchten
Augen in die Kamera; Land und Berge weiten sich endlos blaugrün hinter
dem Vieh. Schafe blöken, schöner Nebel wallt, und die Bäume
recken ihre Äste heroisch in den ungeheuer hohen Himmel, der sich über
Siebenbürgen spannt.
Wenig später ist man bei ukrai-nischen Huzulen zu Gast:
Ein Mann hobelt Käse, seine Frau versorgt das Herdfeuer. Feldblumen
stehen im Fenster ihres einfachen Holzhauses. „Wir halten mehr aus
als die Städter“, sagt die Frau. Für Wasser und Wärme
muss die Familie allein sorgen, die ddddddddddd
hoch oben
in den Bergen einen Bau-ernhof bewirtschaftet und nahezu alle Lebensmittel
selbst erzeugt, sonst würde sie im Winter verhungern. Nur Zucker und
Öl wird im Dorfladen gekauft. Braucht Europa eine neue Seele –
eine, die besser vermarktet werden kann?
„Carpatia“ heißt dieser Dokumentar-film;
gewidmet haben ihn die Re-gisseure Andrzej Klamt und Ulrich Rydzewski den
Menschen und der Natur, die der titelgebenden Region im Osten Europas eine
Seele geben: den Huzulen (einem Hirten- und Flößer-stamm im südöstlichen
Teil der Waldkarpaten), Chassiden, Goralen und Sinti, den Bauern, Hirten,
Gold-gräbern, Künstlern und Zauberern. Im Jahr 2000 entwickelte
Andrzej Klamt ein Filmexpose mit dem vorläufigen Titel „Kurz
vor Europa“; im September 2001 brachen Klamt und Rydzewski zur Recherche-Reise
durch die fünf Länder der Karpaten auf. Die Karpaten
beginnen wenige
Kilometer östlich von Wien und erstrecken sich über die Slowakei,
Südpolen, die Ukraine, Ru-mänien und Ungarn, insgesamt 1500 Kilometer.
Ein multinationales Terri-torium mit großem politischen und kulturellen
Projektionspotenzial zuletzt hat der Dokumentarist Stanislaw Mucha mit seinem
Film „Die Mitte" davon profitiert. Das Karpatengebiet gehörte
vor 1918 größtenteils zu Österreich-Ungarn; nach 1945 wurde
es dem sowjetischen Einflussbereich zugeschlagen. Bis zum Holocaust lebten
hier jahrhundertelang viele Juden.
Acht Sprachen werden in diesem Film gesprochen, der die Zeit
so tief und lange einatmet, wie er langsam reist. Achtungsvoll, nicht romantisie-rend
passt er sich dem Rhythmus der Karpatenbewohner an, so wie sie sich in die
Verhältnisse schicken. Das Idyll entsteht zunächst im Auge des
west-lichen Zuschauers; in Wahrheit resul- dddddddddd
tiert aus
dem kreatürlichen Ange-wiesensein, dem Überlebenskampf in Basis
Jahreszeiten und Wettern zwangsläufig Härte.
Der alte Slowake Gustav, der auf seinen Polio-verkümmerten
Beinen von Hütte zu Stall rutscht, um die Tauben zu füttern, könnte,
so sagt er, alles töten, nicht nur seine Kaninchen. Würde sich
nicht ein Nachbar um Gustav sorgen, hätte er so alt nie werden können.
Die in „Carpatia“ zu besichtigende Einfachheit ist kein frei
unter anderen gewählter Lebensstil, sondern die einzig mögliche
Über-einkunft mit den traditioneller Um-ständen und Ausdruck eines
schweren Lebens. Religion spielt eine wichtige Rolle: „Was ist das
irdische Glück?“ sinniert eine Rumänin, „nach dem
Leben gibt es das Himmelreich.“ Die Dörfler begraben ihre Toten
auf den Höfen; zum Friedhof ist es zu weit.
Ein Bauer sitzt vor seiner Hütte, alte
Mütterchen
im Kopftuch und Männer mit Hüten verlassen eine Kirche. Das Huzulenpaar
fürchtet die Wölfe, die nachts ihre Schafe reißen. Ein scharf
sirrendes Geräusch außerhalb des lieblichen Wiesenbildes kündigt
die Sense an. Nahezu zwei Stunden betreibt „Carpatia“ die Bestands-aufnahme
vorkapitalistischer Existenz. Erhabene Bilder von ungeheurer Ruhe verführen
zur Kontemplation; unge-achtet der Härte ist ihnen das Ver-sprechen
eines erfüllten Daseins doch wie eine Glaubenslosung eingeschrie-ben.
Der Eindruck historischen Stillstands verstärkt sich in
der Auswahl der Protagonisten - der Film besucht bis auf eine Ausnahme Menschen,
die das Lebensmodell ihrer Vorfahren über-nommen haben: Der rumänische
Schmied lernte sein Handwerk von den Vätern und gibt es an die Söhne
weiter; der Bauer in Siebenbürgen ererbte den Hof; wie sein Vater setzt
dddddddd
der polnische Fährmann die Leute über; der
slowakische Illusionist reist mit dem Zirkus seiner Vorfahren durch die
Berge. Im ästhetischen Zugriff auf Osteuropas Seele teilen sich auch
die Grenzen dieser naturhaften Weite mit. Im Film steht der Blick aus den
Fenstern der Zuhause-Bleiber immer wieder für das Ausschnitthafte dieser
Wirklichkeit.
Am vergangenen Wochenende be-schäftigte sich eine Konferenz
in Berlin mit der europäischen Seele. Künstler, Politiker und
Vertreter von Institutionen suchten „kulturelle As-pekte europäischer
Identität in allen Politikbereichen Europas zu stärken“.
Es ging auch um institutionalisierte Öffentlichkeit. Man hätte
Andrzej Klamt, den Polen, und Ulrich Ryd-zewski, den Deutschen, einladen
sollen. Ihre Zeit-Reise in ein fremdes ländliches Europa ist auch eine
zu gemeinsamen kulturellen und histori-schen Wurzeln.
Das rumänische Dörfchen Rosia
Montana thront auf reichen Gold-vorkommen; bald wird es den Schürf-anlagen
eines internationalen Kon-zerns weichen müssen; Die Bewoh-ner werden
umgesiedelt. „Wer weiß, wie es im neuen Dorf sein wird“,
zweifeln Alexandru und Maria Zlagrean. „Carpatia“ ist das Dokument
sowohl einer vergessenen als auch untergehenden Welt. Drei greise gali-zische
Juden trifft der Film im ukra-inischen Kolomyia; wenn sie sterben, wird
ihre Synagoge zu einem Jugend-club umgebaut. Jetzt feiern sie das Laubhüttenfest
in einem improvisier-ten Zelt.
Die Grenzen der Nationen sind nach und nach durchlässiger
geworden, doch die Menschen in „Carpatia“ ent- sprechen nicht
dem Konstrukt einer modernen Identität, die sich selbst erschafft.
Daraus kann man etwas lernen. Im Abspann führen die Regis-seure die
Namen aller Beteiligten, jede
kleine Kirche und jeden Flusslauf
auf.